Film und Archiv
Film ist als Produkt materieller, sozialer und kultureller Umstände immer auch ein Archiv für Moden, Gesten und Gegebenheiten, ein Zeitdokument. THE EXILES ist zwischen 1957 und 1960 entstanden und bewahrt in seinen Bildern ein L.A., das es heute so nicht mehr gibt: Autos, Tanksäulen, Kleider und Hüte wie sie Nachgeborene nur aus anderen Filmen oder von Fotos kennen können, Geschlechterrollen und ein Sozialverhalten, wie manN es heute nur noch selten sieht. Die Leuchtreklamen, Bars und Betrunkenen auf der 3rd Street des Films sind modernen Hochhäusern und Malls gewichen, der gleichnamige Tunnel, der im Film immer wieder durchlaufen wird, ist inzwischen eine Brücke und die Angels Flight Railway, die eine weibliche Protagonistin nicht nimmt, weil die Fahrt kostet, liegt heute stillgelegt einen Block weiter südlich. Bunker Hill, der Lebensraum der hier Portraitierten, ist zum Beispiel für die Glas- und Stahlwerdung der kalifornischen Ideen von Neuer Urbanität geworden. Raum, verloren in der Zeit, ein Zeitraum bewahrt im filmischen.
Doch der Film archiviert nicht nur ein überbautes L.A., sondern eben auch Gesten, Moden und Moralvorstellungen: Die James-Dean-Coolness zur Pomade im Haar, die wortlose aber vorwurfsvolle Duldsamkeit im Blick von Frauen, wenn ihre Männer abends losziehen ohne Bescheid zu geben, wann sie zu Hause sein werden oder der Blick unter Hüten und Kappen hervor, wie sie heute nicht mehr getragen werden, beim Poker-Spiel oder allein an der Bar. Drei Jahre lang hat Kent Mackenzie mit seinen Protagonisten zusammen gearbeitet, um die Charaktere und Szenen des Films zu entwickeln. THE EXILES portraitiert das Umfeld einer Gruppe von Native Americans, die einer Generation junger Amerikaner angehören, die im Reservat aufgewachsen sind und auf der Suche nach einem anderen Leben in die Stadt zogen. Sie kennen die Traditionen ihrer Eltern und den `Amerikanischen Traum´, leben irgendwo dazwischen. Ihr Slang und ihre Kleidung sind so lässig wie Slang und Kleidung anderer Halbstarker, aber sie bekommen keine Jobs und so jagen sie ihrem Leben mit Hilfe von Alkohol die Abenteuer ab, die sie sich von den unbegrenzten Möglichkeiten der Großstadt erträumt haben mögen.
Eine einzige aber lange Nacht im Leben der Gruppe von Protagonisten zieht in den 72 Filmminuten an den Augen der Zuschauer vorüber. Homer und seine Freunde ziehen durch Downtown und die Main-Street-Bars, seine Frau Yvonne verbringt die Nacht allein. Die Männer fahren im offenen Chevrolet durch eine reklamehell-leuchtende Stadt, lachen, füttern Jukeboxen und trinken – wieder und wieder und im Verlauf der Nacht immer mehr. Sie greifen Mädchen auf, landen bei illegalen Pokerrunden und dann wieder in Bars. Yvonne geht derweil ins Kino. Auf dem Heimweg streift sie durch leere Straßen und bleibt vor nächtlich einsamen Schaufenstern stehen. Sie erwartet ein Kind und macht sich Sorgen um die Zukunft ihrer Familie, wie sie in einem langen, melancholischen Off-Kommentar verrät.
Die Handlung von THE EXILES ist inszeniert und spiegelt doch sehr getreu die sozio-historische Realität der Native Americans in den späten 50er Jahren. Der Film ist das Produkt einer langen und intensiven Recherche, Dokumentation und Fiktion überlagern sich: Die Kommentare, die sich wie innere Monologe der verschiedenen Charaktere über die Bilder ihrer nächtlichen Aktivitäten legen, entstammen Interviews, die Mackenzie mit den Protagonisten geführt hat. Sie rücken die Spielhandlung in eine teils traumhafte Ferne, indem sie die synchrone Verknüpfung von Bild- und Tonebene lockern. Mal scheinen die lakonischen Voice-Overs die Bilder zu kommentieren, mal konterkarieren sie diese auch. So begleitet die Kamera Homer und seine Freunde auf der nächtlichen Tour von Bar zu Bar, während seine Stimme von den Auswirkungen des ständigen Alkoholkonsums erzählt. Die Autonomie der Bild- und Tonspur führt aber keinesfalls zur gegenseitigen Disqualifizierung, sie belässt beiden Ebenen der Erzählung die ihr je eigene Kraft und berührende Schönheit. Die hochkontrastigen Bilder der tiefschwarzen Großstadt mit ihren strahlend weißen Leuchtreklamen sind von beeindruckender Qualität. Poetisch und klar eröffnen sie einen Blick auf die melancholische Schönheit der nächtlichen Routinen und zollen ihren Protagonisten derart Respekt. In der Montage dieser stilsichereren Bilder des nächtlichen L.A. und seiner Akteure mit dem aus Jukeboxen und Radios eingespielten Soundtrack der Rock’n’Roll-Band `The Revels´ ergibt sich ein melancholisches aber liebevolles Bild der Community von Bunker Hill um 1960. THE EXILES ist ein Zeugnis dieses Lebens, ein Zeit- und Raumdokument, das durch die Restaurierung des Films wieder zugänglich ist.
txt: Sarah Sander