Archiv für März 2008

THE EXILES von Kent Mackenzie, USA 1961

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Film und Archiv
Film ist als Produkt materieller, sozialer und kultureller Umstände immer auch ein Archiv für Moden, Gesten und Gegebenheiten, ein Zeitdokument. THE EXILES ist zwischen 1957 und 1960 entstanden und bewahrt in seinen Bildern ein L.A., das es heute so nicht mehr gibt: Autos, Tanksäulen, Kleider und Hüte wie sie Nachgeborene nur aus anderen Filmen oder von Fotos kennen können, Geschlechterrollen und ein Sozialverhalten, wie manN es heute nur noch selten sieht. Die Leuchtreklamen, Bars und Betrunkenen auf der 3rd Street des Films sind modernen Hochhäusern und Malls gewichen, der gleichnamige Tunnel, der im Film immer wieder durchlaufen wird, ist inzwischen eine Brücke und die Angels Flight Railway, die eine weibliche Protagonistin nicht nimmt, weil die Fahrt kostet, liegt heute stillgelegt einen Block weiter südlich. Bunker Hill, der Lebensraum der hier Portraitierten, ist zum Beispiel für die Glas- und Stahlwerdung der kalifornischen Ideen von Neuer Urbanität geworden. Raum, verloren in der Zeit, ein Zeitraum bewahrt im filmischen.
Doch der Film archiviert nicht nur ein überbautes L.A., sondern eben auch Gesten, Moden und Moralvorstellungen: Die James-Dean-Coolness zur Pomade im Haar, die wortlose aber vorwurfsvolle Duldsamkeit im Blick von Frauen, wenn ihre Männer abends losziehen ohne Bescheid zu geben, wann sie zu Hause sein werden oder der Blick unter Hüten und Kappen hervor, wie sie heute nicht mehr getragen werden, beim Poker-Spiel oder allein an der Bar. Drei Jahre lang hat Kent Mackenzie mit seinen Protagonisten zusammen gearbeitet, um die Charaktere und Szenen des Films zu entwickeln. THE EXILES portraitiert das Umfeld einer Gruppe von Native Americans, die einer Generation junger Amerikaner angehören, die im Reservat aufgewachsen sind und auf der Suche nach einem anderen Leben in die Stadt zogen. Sie kennen die Traditionen ihrer Eltern und den `Amerikanischen Traum´, leben irgendwo dazwischen. Ihr Slang und ihre Kleidung sind so lässig wie Slang und Kleidung anderer Halbstarker, aber sie bekommen keine Jobs und so jagen sie ihrem Leben mit Hilfe von Alkohol die Abenteuer ab, die sie sich von den unbegrenzten Möglichkeiten der Großstadt erträumt haben mögen.
Eine einzige aber lange Nacht im Leben der Gruppe von Protagonisten zieht in den 72 Filmminuten an den Augen der Zuschauer vorüber. Homer und seine Freunde ziehen durch Downtown und die Main-Street-Bars, seine Frau Yvonne verbringt die Nacht allein. Die Männer fahren im offenen Chevrolet durch eine reklamehell-leuchtende Stadt, lachen, füttern Jukeboxen und trinken – wieder und wieder und im Verlauf der Nacht immer mehr. Sie greifen Mädchen auf, landen bei illegalen Pokerrunden und dann wieder in Bars. Yvonne geht derweil ins Kino. Auf dem Heimweg streift sie durch leere Straßen und bleibt vor nächtlich einsamen Schaufenstern stehen. Sie erwartet ein Kind und macht sich Sorgen um die Zukunft ihrer Familie, wie sie in einem langen, melancholischen Off-Kommentar verrät.
Die Handlung von THE EXILES ist inszeniert und spiegelt doch sehr getreu die sozio-historische Realität der Native Americans in den späten 50er Jahren. Der Film ist das Produkt einer langen und intensiven Recherche, Dokumentation und Fiktion überlagern sich: Die Kommentare, die sich wie innere Monologe der verschiedenen Charaktere über die Bilder ihrer nächtlichen Aktivitäten legen, entstammen Interviews, die Mackenzie mit den Protagonisten geführt hat. Sie rücken die Spielhandlung in eine teils traumhafte Ferne, indem sie die synchrone Verknüpfung von Bild- und Tonebene lockern. Mal scheinen die lakonischen Voice-Overs die Bilder zu kommentieren, mal konterkarieren sie diese auch. So begleitet die Kamera Homer und seine Freunde auf der nächtlichen Tour von Bar zu Bar, während seine Stimme von den Auswirkungen des ständigen Alkoholkonsums erzählt. Die Autonomie der Bild- und Tonspur führt aber keinesfalls zur gegenseitigen Disqualifizierung, sie belässt beiden Ebenen der Erzählung die ihr je eigene Kraft und berührende Schönheit. Die hochkontrastigen Bilder der tiefschwarzen Großstadt mit ihren strahlend weißen Leuchtreklamen sind von beeindruckender Qualität. Poetisch und klar eröffnen sie einen Blick auf die melancholische Schönheit der nächtlichen Routinen und zollen ihren Protagonisten derart Respekt. In der Montage dieser stilsichereren Bilder des nächtlichen L.A. und seiner Akteure mit dem aus Jukeboxen und Radios eingespielten Soundtrack der Rock’n’Roll-Band `The Revels´ ergibt sich ein melancholisches aber liebevolles Bild der Community von Bunker Hill um 1960. THE EXILES ist ein Zeugnis dieses Lebens, ein Zeit- und Raumdokument, das durch die Restaurierung des Films wieder zugänglich ist.

txt: Sarah Sander

PATTI SMITH: DREAM OF LIFE von Steven Sebring, USA 2007

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Nachdenken über die Stimme
Die Stimme ist eine Verdoppelung der Person, Repräsentant des Selbst. Manchen gilt sie als Ausdruck der Persönlichkeit, anderen als Abdruck der Seele. Intonation und Tonlage werden als Seismograph von Stimmungen gelesen, als Anzeichen für Intentionen. Doch die Stimme kehrt nicht nur Inneres nach außen, sie verleibt sich auch Äußeres ein: Erzählungen verdoppeln Welt.
In DREAM OF LIFE erzählt eine Stimme ein Leben. Eckdaten zum Einstieg. Reduziert auf Jahreszahlen, Wohnorte und geliebte Menschen bildet diese verknappte Version eines Lebens den Rahmen für ein intimes Portrait. Ein Pastiche aus Gedanken, Gedichten und Geschehnissen, eine lyrische Collage von Film- und Fotoaufnahmen. Über 12 Jahre hat der Fotograf Steven Sebring Patti Smith mit der Kamera begleitet, war mit ihr auf Konzerten, Anti-Kriegs-Veranstaltungen und bei ihren Eltern. Der so entstandene Film ist eine Hommage an ein intensives und abenteuerreiches Leben, eine Hommage an die Frau mit den großen Schuhen und schlabbrigen Klamotten; die Frau mit den immer zerzausten Haaren und dem ernsten, zugleich abwesenden und konzentrierten Blick. Nie wird ihr die Kontrolle über die Erzählung genommen, selten kontrastiert das Bild ihre eigene, zentrale Version. Das mag an der sich festigenden Freundschaft von Portraitierendem und Portraitierter liegen, an der Achtung und Faszination für die Frau, die Sebring so lange begleitet hat oder auch daran, dass der Fotograf durch das gemeinsame Projekt erst anfing zu filmen. Dilettantismus als Potential/Qualität. Die Bilder des Films sind elegisch; Motivisch verflochten, gruppieren sie sich um die zentrale(n) Geschichte(n) Patti Smiths.  

Die Stimme. Wer Patti Smiths Musik kennt, erkennt in dem rußigen, vollen Ton die ihre. Doch zunächst ist die Stimme noch körperlos, flottiert frei durch den Filmraum. Als losgelöster Kommentar legt sie sich über eine Reihe von Bildern: Aufnahmen von leeren Wohnräumen, Straßenzügen und Terrassen im Regen, fotografiert in lyrischem Grau, Schwarzweissaufnahmen ohne krasse Kontraste. Die Kamera schweift durch die Räume, gleitet über eine Reihe von Fotos, verweilt auf einem herabhängenden Mikrophon, neben dem Patti Smith plötzlich steht. Stumm, wie eine Fotografie. Medientechnisch vom Körper geschieden, ist die Stimme nicht mehr Indikator für Anwesenheit, sondern Phantom: Technisch konserviert und medial übertragen, spricht sie immer auch die Abwesenheit ihrer Quelle mit, deutet auf eine zeitliche wie räumliche Differenz. Körperlosen Stimmen aus der Konserve haftet so etwas geisterhaftes an. Musik hat die Erzählung übernommen, doch die Trennung von Bild und Ton bleibt erhalten, Doppelungen von Gesagtem und Gesehenem gibt es selten in diesem DREAM OF LIFE. Selbst bei den wenigen Konzertaufnahmen wird oft nicht das gespielte Lied synchron übers Bild gelegt. Das dimensioniert den Erzählraum, löst Bild und Ton tranceartig voneinander, evoziert eine interessante Kommunikation zwischen beiden. Die Aufnahmen rücken in eine Ferne, so nah sie auch sind, als sei das gezeigte Leben tatsächlich ein Traum, der nur durch die Erzählung, die Stimme Patti Smiths, zusammen gehalten wird. Sie verwebt die Collagen von Bildern aus unterschiedlichen Zeiten und Gegebenheiten zu einem Teppich aus Themen, zu denen sich die Aufnahmen in s/w und in bunt wie Muster zusammenfinden. In Interviewsequenzen, Off-Kommentaren, Liedtexten und Anekdoten erzählt Patti Smith, was sie für wichtig hält, nennt Freunde, Inspirationen und Lebensstrategien beim Namen. Hier erscheinen die frühen Lektüren von William Blake, E.A. Poe und Rimbaud und die privaten wie kreativen Freundschaften zu William S. Burroughs oder Allen Ginsberg fast wichtiger als die wiederholten Begegnungen mit Musikern wie Bob Dylan. Darin steckt eine der Überraschungen dieses Portraits: Patti Smith präsentiert sich stärker als Dichterin, Beat-Literatin, Punk-Philosophin und politisch Engagierte, denn als Rockstar auf der Bühne. Singen scheint für sie nur eine Möglichkeit unter vielen, ihre Stimme einzusetzen, sie als kreatives Potential und politisches Instrument zu gebrauchen. Punk-Rock als Politikum und künstlerische Lebensstrategie, Chaos als Inspiration.

Die Stimme. Trotz der kratzig-konzentrierten Beiläufigkeit der Intonation evozieren das rauchige Volumen und die Permanenz ihrer Präsenz eine geisterhafte Anwesenheit, der sich schwer zu entziehen ist. In ihrer Unverwechselbarkeit ist die Stimme Patti Smiths für die, die sie als Sängerin kennen, Repräsentant ihrer selbst. Doch so individuell sie auch ist, ob diese Stimme als Ausdruck von Persönlichkeit oder gar Abdruck einer Seele gilt, hängt wohl primär vom jeweiligen Konzept von `Persönlichkeit´ oder `Seele´ ab. Und doch: Diese Stimme erzählt ein Leben. Nicht nur in den Gedanken und Geschichten, die sie äußert, auch in den Kerben und Knoten der Stimmbänder, die bei jedem Wort mitschwingen und diesen speziellen Ton erzeugen. Die Stimme ist damit Widerhall oder Spur eines Lebens, das sich eingeritzt hat in sein Medium, in den Träger, das Material seiner Artikulation. DREAM OF LIFE ist eine Version dieses Lebens, eine unter vielen. Wie 89 Minuten Bewegtbilder mit Ton immer nur das Gespenst eines Lebens sind – ein blasses, perspektivisch-verzerrtes Abbild seiner selbst: Reduktion von Jahren auf Minuten, von drei Dimensionen des Raums auf die künstlichen zwei der Leinwand – so ist auch jede Geschichte immer nur ein Schatten ihrer selbst, Transformation von Erlebtem in Worte. Beides geschickt zu verweben, das ist der Trick dieses Films.

txt: Sarah Sander

RUSALKA – MERMAID von Anna Melikian, Russische Föderation 2007,

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Seemannsgarn

Die Kamera schwenkt hin und her wie bei hohem Seegang. Fische schwappen durchs Bild – hin und her, hin und her. Da verwandelt sich die Aquarium-Animation in einen wippenden Hintern, der zum Kleid des dicken Mädchens wird, als diese es auszieht, um alleine, nackt, baden zu gehen. Sie schwimmt und taucht alleine, nackt, im Meer, bis ein Matrose kommt und sie zur Mutter macht. So verwandelt sich das dicke Mädchen in die Mutter von Alisa, von der die Geschichte handeln soll… Wie Seemannsgarn ziehen sich solche Motivketten durch RUSALKA, den russischen Panorama-Beitrag, der die Reihe eröffnet. Anna Melikian verwebt in ihrem zweiten Spielfilm maritime Mythen mit kindlichen Phantastiken und ästhetischen Extravaganzen zu einem modernen Großstadttraum, der noch märchenhafter wäre, wenn er seinen ästhetischen Spielereien immer standhalten könnte.

Alisa (Masha Shalaeva) lebt mit Mutter und Oma in einer kleinen Stadt am Meer, umgeben von einer Bild- und Soundwelt, wie sie kein Comic bunter oder traumhafter ausmalen könnte. Oft übertönt der Ton das Bild, malt aus, was Alisa sich ausmalt. Akustische Großaufnahmen suggerieren eine Unterwasserwahrnehmung, wie sie das Meermädchen wohl haben mag. Alisa hat magische Kräfte, sie kann Äpfel vom Baum fallen lassen, den Wind zum Orkan anstacheln und Autos (ab)lenken. Wenn sie sich etwas wirklich wünscht, geht es in Erfüllung. So gehen Häuser in Flammen auf, zerstören Stürme ganze Städte oder töten vorbeifahrende Autos potentielle Kommilitonen, die doch auf der Liste vor Alisa stehen, und damit ihren Studienplatz besetzen. Und all das nur, damit Alisas Leben auch in Moskau irgendwie weiter geht. Aber wenn schon allein der Flügelschlag eines Schmetterlings im Amazonas die Welt in Chaos stürzen können soll, wer will sich da noch wundern, was alles passiert, wenn die sehnlichsten und wütendsten Wünsche eines Mädchens wahr werden (würden)?!

Das Schöne an RUSALKA ist, dass die Welt, die den bonbonfarbenen Kinderbuch-Phantasien als Referential und Rahmen dient, immer dreckig und lebendig genug bleibt, um als Projektionsfläche zu dienen. So kontrastieren die fast surrealen (Kinder)Phantasien einen Blick auf die Großstadt Moskau, die mit ihren omnipräsenten Werbesprüchen diese ganz andere Wunschmaschine repräsentiert. In RUSALKA veranlasst diese Welt voll Leuchtreklamen und Glück-verheissenden Werbebannern ihre Protagonisten dazu, tagsüber Grundstücke auf dem Mond an gelangweilte Neureiche zu verkaufen und nachts immer wieder aufs Neue mit einer Flasche Whiskey in der Hand über die Strassen zu wanken, um von der nächstbesten Brücke zu springen oder sich von Autos überfahren zu lassen. Nur Alisa will sich dieser tauben Tristesse nicht beugen, sie schleudert dem grauen Moskau die ganze Farbenpracht und Geräuschepalette ihrer Meerestraumwelt entgegen.

So kreiert Anna Melikian eine ganz eigene Filmversion von der Stadt an der Moskwa, die zwischen Großstadtportrait und Jugendphantasie-Spiegel oszilliert. Ob das Meermädchen Alisa, Masha Shalaeva, wohl auch in einer Welt voll neoromantischem Goth und Punk und TechNoir leben wird, wenn sie so groß ist wie ihre Schwester, Maria Shalaeva, das Cyber-Punk-Girl aus NIRVANA, dem unglaublich dekor- und kostümstarken Forums-Beitrag von Igor Voloshin? Auch das ist eine der phantastischen Möglichkeiten, die die Berlinale bietet: Kleine rote Knoten in dem Netz der Filmvielfalt zu entdecken, oder Motive zu verknüpfen wo kein Programmführer sie weist. Seemannsgarn spinnen eben.

txt: Sarah Sander