ICH MÖCHTE DOCH KEIN MANN SEIN von Ernst Lubitsch mit Ossi Oswalda, D 1918

ossi-oswalda.jpg

MEIN LIEBSTER FILMKUSS

Es geht die Lehre, das Filmbild entfalte sich „zwischen individueller Leiblichkeit und kultureller Phantasie“: Semiotik allein kann ihr nicht beikommen, rein physiologische Untersuchungen des Wahrnehmungsapparats ebenso wenig. Tanzend, flirrend, klirrend und oszillierend zieht es seine Wirkung aus medial generalisierten Symboliken, die – über Netzhaut und Nervenbahnen mit verinnerlichten Lexika kultureller Codes kurzgeschlossen – in Bäuchen, Köpfen, Herzen und Schößen von Kinoguckern explodieren. Kinder unserer Zeit und Produkte einer Umwelt fühlen wir, was zu sehen ist.

Als Ossi Oswalda in schwarzem Frack, den Zylinder in der Hand, im Mäusepalast am Wittenbergplatz mit ihrem Vormund, Nebenbuhler um die Gunst schöner Tanzpartnerinnen, Brüderschaft trinkt, da kribbelt und ziept was in meinem Bauch, kriecht ein Stück höher Richtung Brust und meine Wangenmuskulatur spannt sich, zieht die Mundwinkel auseinander. Zwei schwarz-weiße Schatten von ähnlicher Form und Statur, deren graue Zentren, die ich Münder heiße, nur Milimeter voneinander entfernt sind. Sekundenlang. Dann: der Kuss.
Dann wieder und wieder. Bruderschaft. Ein ums andere Mal. Lippen, die sich streifen, sich entgegenrecken, sich berühren, aufeinander ruhen. Erst kumpelhaft, zaghaft verschmitzt, dann immer leidenschaftlicher, länger. Und dazwischen: Lachen, Champagner, Scherze, und das Flackern des Bildes: Mehr weiss als schwarz. Die Gesichter strahlendhell und riesengross: Affekt in Reinform. Schnitte von Großaufnahmen über Zwischentitel zurück zur Komik. Der Gang zum Klo endet in Schulterzucken: „Frag nicht!“ Taumelnd – trunken von Champgner, Zigarren und Männerküssen – schlängert Ossi Oswalda zwischen Damen- und Herrentoilette, von der einen zurückgepfiffen, in die andere nicht gewagt. Lost in Transgender.

Bei Lubitsch ist das ein großer Spaß, ist das Komik, ist das Slapstick. „Immer geradeaus!“. Erst in der Kutsche werden sie Ruhe finden, die zwei, die küssen. Ruhe vor den Männern, „ein grobes Pack“ und den Frauen, „ein anstrengender Haufen“. Arm in Arm liegen sie dort, die zwei, die küssen: Schwarzweiße Schatten im Morgengrauen; und in mir kribbelts, in mir gluckerts, in mir lachts.

Lachen tuts auch im Saal; und hinter mir ganz besonders als der „Vormund, der sich gewaschen hat“ im fremdem Bett aufwacht. Vom Kutscher zur falschen Adresse bugsiert, liegt er mit Schlafhaube und Spitzennachthemd in Ossis Zimmer. Kulturelle Lexika differieren: Kinder einer Zeit, sind wir Produkte unserer Umwelt.

Doch der Kuss, der bleibt. Nicht in Filmtheorie zu pressen, mit Semiotik zu bannen oder durch Soziologie zu verorten, besticht er in seiner Widerspenstigkeit. Als Relikt längst vergangener Tage flirrt er über die Leinwand, explodiert in meinem Bauch. Und im Lachen bin ich vereint: mit Lubitsch, mit Ossi Oswalda, mit Berlin 1918 und mit allen Zuguckern um mich herum. „Zwischen individueller Leiblichkeit und kultureller Phantasie“.

txt: sarah sander

0 Antworten to “ICH MÖCHTE DOCH KEIN MANN SEIN von Ernst Lubitsch mit Ossi Oswalda, D 1918”



  1. Kommentar verfassen

Hinterlasse einen Kommentar