BERLIN ALEXANDERPLATZ remastered von R.W.Fassbinder D/I 1979/80 (13 Teile + Epilog)

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BLITZLICHTER

Da ist er wieder, der Goldstaub: das Gleißen und Glimmern, das Blitzen und Flimmern, das immer dann übers Bildfeld tanzt, wenn es besonders düster wird; besonders düster, besonders schäbig oder bedrohlich. Wie Feenstaub aus einem Märchenfilm schwirren tausend und abertausend goldfunkelnde Glitzersternchen über der Kiste, in der die tote Mieze liegt: Bleich, dreckstrotzende Haare und zerrissene Kleider, liegt sie da, zusammengerollt, embryonal, wie das Baby, das sie nie bekommen konnte. Schön und friedlich mit ihrem mädchenjungen Gesicht, ausgebuddelt nach Wochen, die sie verscharrt lag unter dem modrigen Waldboden: tot. verwesend. Und über der Kiste tanzt und glimmt und blitzt und singt der Goldstaub. Materialisiertes Licht.

Goldstaub, der schon an Franz Biberkopfs Kinn und Stirn klebte, als dieser, an seiner eigenen Kotze fast erstickend, zwischen tausend und abertausend leeren Bierflaschen in seiner Bude liegt, kurz vor oder nach der ersten Schicksalswende: Betrogen von seinem Freund Otto, mit dem gemeinsam er Schnürsenkel verkauft hatte; verlassen von Lina, dem polnischen Mädchen, das ihm helfen wollte, anständig zu sein. In seinem eigenen Erbrochenen liegend, klebt ihm der Goldstaub an Kinn und Stirn. Und es bricht sich in funkelnden Blitzen an jedem Flaschenhals ein Lichtreflex, in perfekter Galashowsternchenform holt er die Achtziger in den Film. Wie die Musik: Schlagermix mit Synthiepop.

Das lamettagoldene Gleißen und Glimmen, das spektralweiße Glitzern und Flimmern, die Lichtsternchen auf Augen und Lippen, in Spiegeln und Fenstern und Gläsern verschmelzen. Eine Lichtdramaturgie, die blendet, sobald es düster wird: Wenn Franz Biberkopf durch die Rotlichtgasse schleicht, in der aus jedem Fenster eine Hausherrin sich schlängelt, Domina mit blanker Brust und lederner Peitsche, wenn der Spiegelglatzenschädel der Schaufensterpuppengespielin des Sta(d)tthalters und Zuhälters fast so viele Reflexe wirft wie die geölten Nippel und die Hure Babylon in ihrem Kessel Attraktion ist und doch verschmäht bleibt, wenn überall nacktes Fleisch und offene Wünsche und Sexualität ist, dann klebt an jedermann, auf jeder Brust und jeder Zungenspitze Goldstaub. Und an den Wänden hängt Lametta. 

Wo Es war soll Licht werden. Fassbinder kehrt tradierte Lichtdramaturgien um. Wenn der Wiederling Rainhold sich zum ersten Mal der ach so süßen und ach so naiven Mieze nähert, und ihr vom Frauentausch mit Franz erzählt, dann ist sein Gesicht kaum zu sehen, von gleißendem Licht überdeckt.
Bilder von der modernen Großstadt sieht man kaum. Nur über das Licht halten sie Einzug in die klaustrophobischen, mahagonibraungoldroten Innenräume, wie nervöse, elektrische Verbindungen zum Wahnsinn auf den Straßen. Das Licht schichtet das Bild: im Aufblitzen von Signalen, die die Moderne sind, wird sie hereingeholt: ins Bild, in den Biberkopf, in unseren Kopf. Leuchtreklamen, Plakatwände, Schlagertexte, Politik- und Sprichwortfetzen takten als Flackern, als Reflex, diese exkorporalisierten Psychogramme, die Biedermeierwohnungen und Arbeiterbutzen. Schicht um Schicht sehen wir Döblin, den Text, sehen Berlin Alexanderplatz und die Weimarer Großstadt, sehen Franz Biberkopf und Günter Lamprecht, sehen Fassbinder und sein Universum, sein Ensemble und seine Zeit. Die Achtziger überlagern die Zwanziger, die Vorstellung von westdeutschen Wohnzimmern und der Empörung über das Dritte überlagern die harten Theatersessel der Volxbühne. Er ist wieder da, Alfreds Franz und Fassbinders Biberkopf, fast am Alexanderplaz angelangt, nach 78 und nach 26 Jahren. Und wir mittendrin: in der Berlinale, in der Großstadt, in dem Wahn und im Lichtgeblitze: 24 pro Sekunde, 898 Minuten lang.

txt: sarah sander

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