PRATER von Ulrike Ottinger, A/D 2007 (Doku, Farbe, 104 Min.)

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NOTES ON A DYING WORLD: Die Anmut des Grotesken.
oder: Die Frau und der Affe; KINO DER ATTRAKTIONEN.

Erst das Skelett, dann das Krokodil, dann die Rennschweinchen, der Tanzclown und der Riesenaffe: Eins nach dem anderen beginnen die hölzernen Geister der Bahn sich zu bewegen, die Puppen zu tanzen, die Kunststofftiere zu `leben´. Sie drehen sich, kippen und fahren; die unsichtbaren Schienen in jeder Bewegung. Es zuckt in Glenken und Scharnieren, es hebt sich im Takt mal ein Arm, mal ein Bein. Wer blähst dem Clown bloß den Marsch? Da wackeln die Schweinerücken ruckweise zum Ziel, da klappen Krokodil- und Geisterkiefer, da beugt sich King Kong knarrend nach vorn. Stativaufnahmen wie Postkartengrüße. Der Schnitt gibt den Takt. Schön und grotesk wie die Fischertechnik-Architektur der Illusionsmaschinen vor stahlblauem Himmel auch die Perspektiven der Kamera. Wir schauen auf, wir schauen hin. Lang, liebevoll. Behäbig, mechanisch und hoheitsvoll zugleich sehen sie aus, die Robotermaschinen und mechanischen Marionetten. Lebendig, als hätten sie gerade erst einen neuen Anstrich bekommen, ein paar Tropfen Öl, ein bisschen Schmiere. Strahlend blau, tiefgrün, knallrot, schwarz und weiß; klar grenzen die Farben sich voneinander ab.

Bildergalerien und Daumenkino.
Jahrmarkt und Kino der Attraktionen; Orte voll Sensationen und Wunder. Der PRATER: A dying world, doch Ulrike Ottinger verleiht ihr neues Leben. Durch Apparate, Marionetten, Karussells, Monster und Sensationen längst vergangener Tage bringt sie den Ort zum Sprechen. Multiperspektivisch, die Protagonisten Menschen und Maschinen von gestern wie heute. Der Wiener Prater, ältester Vergnügungspark der Welt, der noch heute Besucher aus aller Herren Länder anlockt, ist Relikt einer verlorenen Zeit. Wie ein Monolith ragt er ins Heute; eine Welt im Kleinen, hätte Benjamin wohl gesagt. Die Bild- und Filmschätze, die die Regisseurin in unzähligen Archiven ausgegraben hat und im Film das Licht sehen lässt, zeugen von seiner Geschichte: 250 Jahre Ort der Sehnsüchte, Illusionen und Attraktionen, 250 Jahre Ort des Anderen. Da gibt es kolorierte Diapositive, die staunende Zuschauer vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts zeigen und Filmdokumente von nachgebauten Aschanti-, Fitschi- oder Hottentottendörfern, in denen eingeschiffte „Eingeborene“ dem kolonialisierenden Blick der neugierigen Praterbesucher dargeboten werden. Da sind groteske Attraktionsaufnahmen von purzelbaumschlagende Kleinwüchsigen, Schlangenfrauen oder dem Mann ohne Unterleib, und Propagandamaterial der Nazis. Es gibt Aufnahmen von Achterbahfahrten aus den 50ern und Bilder vom Ikarus, dem Ejection Seat und der Tanz-Zentrifuge heute. Einer Jugendgang beweisst sich am „Watschenmann“, Kinder staunen beim Kasperletheater und eine Frau scheint sich und die Welt beim nächtlichen Tanz zu vergessen. Es sind die Geschichten der Nachkommen der frühen Schaustellerfamilien und Illusionsbudenbetreiber, die Geschichten der Karussells und Wunschmaschinen, die Geschichten der Musiken und der Technikentwicklung, die die Zeit überbrücken.

Eine Korrespondenz der Bilder entwickelt sich; ein Zwiegespräch zwischen Gestern und Heute. Wechselseitig verleihen sich die Aufnahmen Farbe und Leben, Geschichte und Tiefe. Schwarzweißes und Buntes durchdringt sich, die Musik überbrückt die Zeit: Was in Sepia Marsch der Kapelle im Bild ist, wird mit der Farbe zur extradiegetischen Filmmusik. Den Soundtrack bilden die Melodien von Kirmesorgeln, Orchestrions, Walzen, Lochkarten, Musikboxen und mechanischen Puppen; die Musiken und Schlager der verschiedenen Zeiten begleiten das Bild. Texte von Elfriede Jelinek, Erich Kästner und Elias Canetti kommentieren das Geschehen: Mal als Voice-Over auf der Tonspur, mal frontal in die Kamera gesprochen. Jelinek, die Freundin Ottingers, wirft sich selbst ins Geschehen: Das Textblatt in der Hand steckt sie den Kopf durch das Loch in King Kongs Bildwand: Die Frau und der Affe.

„Wenn die Gefahr bestand, ich könnte die Beherrschung verlieren, schreiend vor Vergnügen auf dem Ringelspiel mit den Topferln – meinem Lieblingsringelspiel – oder auf anderen Vergnügungsmaschinen, inmitten all der Buntheit des Praters und all der Vielfältigkeit, die sich ohnehin jeder Beherrschung zu entziehen schien, wenn ich also außer Rand und außerhalb ihrer Herrschafts-Bande zu geraten drohte wie eine verirrte Billardkugel, musste ich, gleichsam am Schnürl, wieder zurückgeholt werden…“, zitiert sie sich selbst.

PRATER. Zitat und Collage als Prinzip der Montage. Auf Bild-, Text- und Tonebene arbeitet Ulrike Ottingers so. In ihren Filmen kommt zusammen, was sie auch in anderen Künsten studiert und probiert: Schon bevor sie begann Filme zu machen, hat sie gemalt und fotografiert, parallel zu ihren Arbeiten als Regisseurin, Drehbuchautorin und Kamerafrau arbeitet sie weiter als Fotografin und gelegentlich auch am Theater. Techniken und Spezifika der einzelnen Künste durchdringen sich so: Schon die frühen Bilder, die sie Anfang der 60er Jahre in Paris malte, hat sie mit Freunden als „Lebende Bilder“ inszeniert, die sie fotografierte und dann auf die Leinwand brachte. Und in den Pariser Ausstellungen stellte sie die Bücher, die sie gerade las, mit aus und ließ Toncollagen und Musik aus ihrer Schellackplattensammlung von einem Grammophon abspielen. In PRATER erweitern die verschiedenen Künste sich wechselseitig: Filmaufnahmen wirken wie Ölgemälde und Fotos beginnen sich zu bewegen wie im Daumenkino. Die Bilder heben an zu tönen, wenn die Tonspur sich mit ihnen identifiziert: Im Zucken und tanzen des Clowns, in der Verbindung mit dem Caféhausorchester in Sepia oder dem Tanz der einsamen Nachtschwärmerin. Antiquierte Texte und Bilder kommentieren das Geschehen, Dokumentation und Fiktion werden verwebt. In hautengem silber Overall taucht das Fotomodell Veruschka als Barbarella, als Kunstfigur aus früheren Filmen Ottingers, auf, und besucht den Prater. Sie nimmt uns dabei kurz an die Hand, spricht zu uns in die Kamera, reckt sich King Kong entgegen. Die Frau und der Affe und wir. Wer guckt hier nur wen oder was an? Im Grotesken des Schönen liegt Anmut.

Eine Ferne so nah, eine Nähe so fern. Das ist (der) PRATER. Eine Welt im Kleinen als Miniatur der Zeit: 104 Minuten lang projiziert PRATER die Geschichte(n) eines Ortes auf das Rechteck der Leinwand; Geschichte(n), die Metamorphosen eines Ortes im Wandel der Zeiten anzeigen, eines Ortes, der selbst Sammelbecken und Abbild unterschiedlichster Orte und Fantastiken ist und immer schon war. PRATER: Sinn-, Bild und Falte der Zeit.

1 Antwort to “PRATER von Ulrike Ottinger, A/D 2007 (Doku, Farbe, 104 Min.)”


  1. 1 marian April 19, 2007 um 4:54 pm

    Es zuckt in Glenken und Scharnieren, es hebt sich im Takt mal ein Arm, mal ein Bein.
    Fehlt ein „e“ in „Gelenken“

    Wer blähst dem Clown bloß den Marsch?
    „blähst“ ohne „h“…ich dachte immer: vom tuten keine ahnung – aber…

    ich find „ashanti“ ja immer netter ohne „c“ (aschanti)

    Einer Jugendgang beweisst sich am “Watschenmann”,…
    Eine („r“ zu viel)

    Was in Sepia Marsch der Kapelle im Bild ist, wird mit der Farbe zur extradiegetischen Filmmusik.
    Fehlt hier ein „als“ nach „sepia“?

    PRATER. Zitat und Collage als Prinzip der Montage. Auf Bild-, Text- und Tonebene arbeitet Ulrike Ottingers so.
    Ein „s“ zu viel bei ottinger


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