THE HALFMOON FILES von Philip Scheffner, Deutschland 2007

Geschichten, Geschichte und Geschichtetes: über Philip Scheffners Dokumentarfilm The Halfmoon Files

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Geschichte,
eine Geschichte erzählen,
Geschichte schreiben,
Geschichte machen.
Kriegsgeschichte,
Mediengeschichte,
Mall Singhs Geschichte.
Geschichte aus Schichten und Geschichtetem.
Hier werden Stimmen geschichtet,
hier wird Material gesichtet.
Geistergeschichten.

Geistergeschichten
The Halfmoon Files ist eine Geistergeschichte, die im brandenburgischen Wünsdorf spielt, einem Ort, der auf den ersten Blick herzzerreißend gewöhnlich wirkt: wir sehen praktisch-beige gekleidete Rentner auf Bierzeltbänken sitzen und ein wenig zu Blasmusik wippen; wir sehen sommerlich gekleidete Frauen in antiquarischen Buchbeständen stöbern. Doch kriegt das Vertraute schnell einen Sprung: im Wind flattert eine rot-weißes Absperrungsband aus Plastik und der Kommentator aus dem Off erzählt dazu von einem indischen Aberglaube, demzufolge Geistern in alten Stofffetzen auf der Straße hausen. Und sogleich verändert sich auch mein Blick auf das sich immer wieder aufbäumende und sogleich erschlaffende Baustellen-Band. Gespensterhaft sind auch die wiederkehrenden Bilder von dunklen Weihern und kahlen Bäumen im Nebel. Die Kamera nähert sich dem fahlen Grau von nassen Weiden in langsamen, kaum merklichen Zooms, die eine unsichtbare, geisterhafte Präsenz suggerieren und eine Stimmung evozieren, die irgendwo zwischen Horrorfilm und Caspar David Friedrich liegt.
Geister in Wünsdorf? Ja. The Halfmoon Files erzählt die Geschichte von Soldaten aus dem fernen und nahen Osten, aus Indien und Afrika, die im ersten Weltkrieg auf der Seite der Alliierten kämpften und von den Deutschen in einem speziellen Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf interniert wurden. Ein Stück mir völlig unbekannter Historie, obskur und absurd, ich könnte es kaum glauben, sähe ich nicht die alten, pink und türkis nachkolorierten Ansichtskarten der Moschee in Wünsdorf.
Doch wie kann man Geistern auf die Spur kommen? Wie kann man das geisterhaft Körperlose und Immaterielle des Vergangenen in einem Film verhandeln? Die Antwort liegt im Archiv.
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Material sichten
Aus diversen Archiven trägt der Film zusammen: alte Filmfragmente mit und ohne Ton, Fotos, Bücher, Schellackplatten, Radioaufnahmen, Telefongespräche, Ansichtskarten. Im Mittelpunkt von The Halfmoon Files steht immer wieder genau das, wodurch so gerne und leicht hindurchgesehen wird: das Medium, der Signifkant, der Träger. So ist der Blick meist ein klein wenig ver-rückt: die Kamera fokussiert nicht ein Foto, sondern seine Bildunterschrift und mehr noch den unbedruckten Rand der Buchseite. Die unhintergehbare Materialität von Medien wird herausgestellt, indem uns immer wieder „Störgeräusche“ vorgeführt werden: das Rauschen der Schellackplatte, die Rückkopplungen des Mobiltelefons. Zwischen Knistern und Knacken entfaltet sich das Unheimliche der körperlosen Stimme.

Stimmen schichten
Die angesprochenen geisterhaften Schellackaufnahmen bilden das Herz von The Halfmoon Files: heute im Lautarchiv der Humboldt-Universität aufbewahrt, entstanden die Schellack-Aufnahmen von 1915 bis 1918 durch die „Königlich Preußische Phonographische Kommission“ unter Leitung des Sprachwissenschaftlers Wilhelm Doegen. Doegens ehrgeiziges Ziel war es, ein „Stimmenmuseum der Völker“ einzurichten, welches alle Sprachen der Welt umfassen sollte. Den Anfang macht Doegen mit den Sprachen derer, die es dank Krieg und Kolonialismus nach Wünsdorf verschlagen hat. Waren die Aufnahmen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung unauflöslicher Teil einer gewalttätigen Kriegsmaschinerie, so stellen sie heute auch die Möglichkeit dar, die Einstimmigkeit herkömmlicher historischer Darstellung durch Vielstimmigkeit zu ersetzen. So versammelt The Halfmoon Files die verschiedensten Stimmen: Schellack-Stimmen, Radio-Stimmen, Telefon-Stimmen, stumme Stimmen, die nur noch Schrift sind.

Geschichte aus Schichten und Geschichtetem
Aus dieser Vervielfältigung von Stimmen, aus ihrer Schichtung und Überlagerung setzt sich langsam und sukzessive Geschichte zusammen. Oder lagert sich ab, als etwas, das die anschwellenden und abebbenden Stimmen mit sich führen und hinterlassen.

Mall Singhs Geschichte
Eine der Stimmen gehört Mall Singh. Der junge Inder, geboren 1892 im nordindischen Ranasukhi, war in Wünsdorf inhaftiert, wo er Teil von Doegens „Stimmenmusem“ wurde. Doch während Doegen und seine Assistenten die Person hinter der Stimme verschwinden lassen wollen, um sie, von aller Individualität bereinigt, zum reinen Sprach-Sample zu machen, schmuggelt Singh unbemerkt seine eigene Lebensgeschichte ein, verfremdet in der dritten Person: „Es war einmal ein Mann…“. So wird plötzlich ein Mensch erkennbar und es fühlt sich an, als würde er nur zu mir, die ich 2007 in einem Berliner Kinosaal sitze, sprechen. Das ist seltsam und aufregend und anrührend. The Halfmoon Files ist auch der Versuch, der Person Mall Singh nachzuspüren und seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren.
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Mediengeschichte
In The Halfmoon Files verknüpft sich Mediengeschichte, wie so oft, mit Kriegsgeschichte. So war Wilhelm Doegen nicht nur Pionier auf dem Gebiet der Integration modernster Medien in den schulischen Fremdsprachenunterricht; schnell erkannte er auch den Nutzen, den die Kriegssituation für die Verwirklichung seines geplanten Archivs der Weltsprachen darstellte. Wie praktisch, die Welt in Wünsdorf! Kaiser Wilhelms Kommentar zu Doegens Plan, in den Kriegsgefangenenlagern Aufnahmen zu machen: „Dann haben wir die Kerle alle auf Schellack, für immer!“ Schöner könnte die innige Verquickung von Wissenschaft, Macht und Kriegsführung nicht auf den Punkt gebracht werden; Wissenschaft wird Waffe, Krieg Methode und Technologie Unterwerfung.

Geschichte machen
Sagt man, jemand habe Geschichte gemacht, so meint man damit für gewöhnlich, er habe historisch Bedeutsames geleistet und so den Gang der Welt beeinflusst. Hat jemand Geschichte gemacht, so wird sein Name erinnert und in Geschichtsbüchern festgehalten. Nicht Geschichte gemacht haben demnach die internierten Soldaten aus Indien und Afrika, die in Wünsdorf einsaßen. Vom militärisch-akademischen Komplex der deutschen Kriegsmaschinerie festgehalten in Fotografien, Film- und Tonaufnahmen, bleiben sie ohne Namen und ohne Geschichte. Daneben ein Haufen normierter Formblätter, ausgefüllt in schwungvoller altdeutscher Schreibschrift, die Menschen klassifizieren und entindivualisieren, bis sie nicht mehr sind als bloße Repräsentanten einer Ethnie.
Geschichte gemacht hat – im Gegensatz zu jenen Namenlosen – der deutsche Kaiser. Geschichte gemacht hat auch Professor Doegen, nicht nur als Vater des „Stimmenmuseums“, sondern in einem ganz wortwörtlichen Sinne: in einem Radiointerview aus den 50er Jahren besteht er stolz darauf, dass er damals mit seinen Tonaufnahmen Dokumente geschaffen, nicht gesammelt habe. Geschichte machen heißt also auch, Dokumente und Quellen herzustellen. Geschichte macht demnach derjenige, der über die Technologie verfügt, Quellen zu machen. Genau deshalb sind Quellen nicht unschuldig. Sie sind kein Abbild von dem, was war.

Geschichte schreiben
The Halfmoon Files ist keine Geschichtsschreibung im traditionellen Sinne: nicht objektiv, nicht linear, nicht stringent argumentierend, nicht abstrahierend, nur zum Teil der Vergangenheit zugewandt. Erzählt wird Geschichte hier von ihren Rändern her, über Umwege. Der Film lässt sich treiben, er schweift, umkreist, läuft zickzack. Immer wieder gibt es krasse Schnitte und Brüche, zwischen heute und damals, zwischen Brandenburg und Indien, Stille und Lärm, Schwarzweiß und Farbe; doch über die Schnitte setzt sich was zusammen, in den Brüchen lagert sich was ab.

Geschichte

Elena Meilicke

1 Antwort to “THE HALFMOON FILES von Philip Scheffner, Deutschland 2007”


  1. 1 sarah August 11, 2007 um 9:07 am

    liebe elena,
    schön dass du den text noch geposted hast!
    wenn du die photos gross haben willst, musst du „vollbild“ (oder so) anklicken…


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